Die Verschwundenen von Tripolis | WOZ Die Wochenzeitung

2022-05-29 07:55:17 By : Ms. Waltmal Manager

Der Guineer Aliou Candé, der in einem libyschen Geheimlager ums Leben kam. Foto: Ricci Shryock, The Outlaw Ocean Project

Den Gefangenen ist es verboten, zu sprechen oder auch nur in den Himmel zu schauen: Das Al-Mabani-Gefängnis in Tripolis. Drohnenaufnahme: Pierre Kattar, The Outlaw Ocean Project

«Aliou sagte, alle aus seiner Generation seien ins Ausland gegangen und hätten Erfolg»: Aminatta und Samba Candé mit einem Familenfoto. Foto: Ricci Shryock, The Outlaw Ocean Project

«Ich weiss nicht, wie lange es dauern wird», hatte er gesagt. «Aber ich liebe dich und komme wieder»: Candés Frau Hava mit Tochter Cadjato. Foto: Ricci Shryock, The Outlaw Ocean Project

Aliou Candé gehörte zu den vielen, die hoffnungsvoll nach Europa aufbrechen und nun in Libyen inhaftiert sind. Dieser Report gibt erstmals einen Einblick in das tödliche Gefängnissystem und dokumentiert die Mitverantwortung Europas an diesem Verbrechen der Gegenwart.

Eine Ansammlung von Lagerhäusern, unscheinbar wie ein Schrottplatz, steht entlang einer Autobahn im Ghut-al-Schaal-Viertel von Tripolis. Das einstige Lager für Trockenbauwände, Betonstahl und Bauholz wurde mit höheren Mauern und Stacheldraht versehen und letzten Januar wiedereröffnet. An der Ostseite des Geländes stehen ein Dutzend Männer in Tarnuniformen um einen Frachtcontainer herum, der als Büro dient, einige mit Kalaschnikows bewaffnet. Am Eingangstor hängt ein Schild: «Gericht für die Verfolgung illegaler Migranten». Tatsächlich ist die Einrichtung ein Geheimgefängnis für Geflüchtete, das unter dem Namen «al-Mabani» bekannt ist, «das Gebäude».

Am 5. Februar um drei Uhr morgens wurde Aliou Candé, ein 28-jähriger Geflüchteter aus Guinea-Bissau, in das Gefängnis gebracht. Candé war klein, stämmig und schüchtern. Siebzehn Monate zuvor hatte er seine Heimat verlassen, weil er mit seinem Hof nicht genug erwirtschaftete, und sich auf den Weg zu seinen Brüdern nach Europa gemacht. Doch beim Versuch, das Mittelmeer in einem Boot zu überqueren, wurden er und hundert weitere Geflüchtete von der sogenannten libyschen Küstenwache abgefangen und inhaftiert.

In Zelle Nummer vier befanden sich bereits rund 300 andere Personen. Das Licht der Leuchtstoffröhren brannte die ganze Nacht. Ein kleines Gitter in der Haupttür war die einzige natürliche Lichtquelle. Im Dachgebälk nisteten Vögel, ihr Kot und ihre Federn fielen in die Zelle. Es gab praktisch keinen Platz zum Sitzen. Candé drängte sich in eine entfernte Ecke und geriet in Panik. «Was sollen wir tun?», fragte er einen Zellengenossen.

In sechzehn Monaten von Bissau nach Tripolis: Aliou Candés Fluchtroute (grosse Ansicht der Karte). Karte: WOZ

Candé hatte keine Ahnung, wo er festgehalten wurde, und draussen wusste niemand von seiner Gefangenschaft. Weder wurde er eines Verbrechens beschuldigt, noch durfte er mit einem Anwalt sprechen; auch wurde ihm nicht mitgeteilt, ob er das Gefängnis je wieder verlassen dürfe. In den ersten Tagen blieb er meist für sich und fügte sich der düsteren Routine des Ortes. Etwa 1500 Geflüchtete waren in acht gesichtslosen, nach Geschlecht getrennten Zellen untergebracht. Es gab nur eine Toilette für hundert Personen, und die Gefangenen mussten in Wasserflaschen urinieren.

Geschlafen wurde auf dünnen Schaumstoffmatten auf dem Boden, die mit Läusen, Krätzemilben und Flöhen verseucht waren. Da es nicht genügend Matten gab, schliefen zwei Männer jeweils abwechselnd: einer tagsüber, der andere nachts. Zweimal am Tag wurden Candé und die anderen Geflüchteten im Gänsemarsch zum Essen in den Gefängnishof geführt, wo es ihnen verboten war, zu sprechen oder nur schon in den Himmel zu schauen. Wie Zoowärter stellten die Wächter grosse Schüsseln mit Essen auf den Boden, und die Geflüchteten versammelten sich im Kreis, um daraus zu essen.

Wer sich den Befehlen der Wachen widersetzte, wurde mit allem, was gerade zur Hand war, geschlagen: mit einer Schaufel, einem Schlauch, einem Kabel oder einem Ast. Unter den Geflüchteten kursierten Berichte über die Folter von «Unruhestiftern». Die Häftlinge spekulierten, dass die Wachen die Toten von al-Mabani in einem Haufen Ziegel- und Gipsschutt hinter einer der Aussenmauern des Geländes entsorgten. Einige der Geflüchteten hatten Graffiti an die Zellenwände gekritzelt, kleine Zeichen der Hoffnung: «Ein Soldat zieht sich niemals zurück», stand auf einem, auf einem anderen: «Mit geschlossenen Augen rücken wir vor. Nur Gott kennt unseren Sieg.»

Bald erfuhr Candé, dass es nur einen Weg aus dem Gefängnis gab. Die Wärter boten den Geflüchteten ihre Freiheit gegen eine Gebühr von umgerechnet rund 500 Franken an. Während der Mahlzeiten liefen sie mit einem Mobiltelefon umher und forderten die Inhaftierten auf, ihre Eltern anzurufen, wenn diese zahlen konnten. Candé wusste, dass seine Familie das Lösegeld niemals würde aufbringen können, und so sass er wie die meisten anderen Gefangenen fest. «Wenn man niemanden hat, den man anrufen kann, setzt man sich einfach hin», erinnert sich sein Freund Tokam Martin Luther, ein älterer Mann aus Kamerun, der seinen Schlafplatz direkt neben Candé hatte.

In den letzten sechs Jahren hat die EU – der finanziellen und politischen Kosten der Fluchtbewegungen aus den Ländern südlich der Sahara überdrüssig – ein Schattensystem geschaffen, das die Menschen aufhält, bevor sie Europas Küsten erreichen. Und sie hat die libysche Küstenwache, eine paramilitärische Organisation, finanziert, ausgebildet und ausgerüstet. Diese patrouilliert im Mittelmeer, sabotiert humanitäre Rettungsaktionen und greift Geflüchtete auf dem Weg nach Europa auf.

Anschliessend werden die Menschen in Libyen in ein Lagersystem geschleust, wo sie auf unbestimmte Zeit und ohne Gerichtsverfahren festgehalten werden. Betrieben werden die Gefängnisse in der Regel von einer der vielen konkurrierenden Milizen. Im ersten Halbjahr dieses Jahres wurden etwa 6000 Menschen in diese Einrichtungen gebracht – die meisten davon nach al-Mabani. Internationale Hilfsorganisationen haben eine ganze Reihe von Misshandlungen in den Einrichtungen dokumentiert: Elektroschocks an Gefangenen, Vergewaltigungen durch das Wachpersonal, die Erpressung von Lösegeld von den Familien der Inhaftierten und den Verkauf von Männern und Frauen zur Zwangsarbeit. «Die EU hat dieses System seit Jahren sorgfältig und überlegt geplant: Es ist ein Höllenloch, um die Menschen davon abzuhalten, nach Europa zu kommen», sagt der Menschenrechtsanwalt Salah Marghani, der von 2012 bis 2014 libyscher Justizminister war, im Gespräch.

Drei Wochen nach Candés Ankunft heckte eine Gruppe Gefangener einen Fluchtplan aus. Moussa Korouma, ein Geflüchteter aus Côte d’Ivoire, und einige andere koteten in einen Abfalleimer und liessen ihn zwei Tage lang in einer Ecke der Zelle stehen, bis der Gestank übermächtig wurde. «Ich war zum ersten Mal im Gefängnis, es war die Hölle», sagt Korouma. Als die Wärter die Zellentüren öffneten, stürmten neunzehn Personen an ihnen vorbei. Sie kletterten über die Mauern, liessen sich knapp fünf Meter in die Tiefe fallen und verschwanden im Gassengewirr.

Für jene, die zurückblieben, hatte das blutige Folgen. Am Abend riefen die Wächter Verstärkung, die die Zellentür mit Kugeln beschoss. Dann drangen sie ein und verprügelten die Häftlinge. «Einem Mann schlugen sie mit einer Pistole auf den Kopf, bis er ohnmächtig wurde», berichtete ein Geflüchteter später Amnesty International. «Sie haben keinen Krankenwagen gerufen, um ihn abzuholen; er atmete noch, aber er konnte nicht mehr sprechen. Ich weiss nicht, was mit ihm passiert ist.»

In den folgenden Wochen klammerte sich Candé an ein hoffnungsvolles Gerücht: dass die Wärter planten, die Häftlinge in seiner Zelle zu Ehren des Ramadan freizulassen, der in neun Wochen beginnen sollte. Wenn er es bis dahin schaffen würde, so dachte er, hätte er eine Chance, zu überleben. Tokam Martin Luther hat die im Gefängnis herrschende Aufregung in seinem Tagebuch beschrieben: «Der Herr ist wunderbar. Möge seine Gnade weiterhin alle Flüchtenden auf der ganzen Welt und besonders die aus Libyen beschützen.»

Was später als «europäische Flüchtlingskrise» bekannt werden sollte, begann im Jahr 2010. Humanitäre Organisationen registrierten erstmals eine steigende Anzahl Asylsuchender, die auf Kriege im Nahen Osten, vor allem in Syrien, Afghanistan und im Irak, zurückzuführen war. Auch Terroranschläge in Nigeria und Pakistan sowie Menschenrechtsverletzungen in Eritrea trugen zu den Fluchtbewegungen bei. Bald flohen Hunderttausende nach Italien, Griechenland, Spanien und Malta. Zum Teil waren sie auch durch die Folgen der Klimaerwärmung angetrieben: Dürren, Ernteausfälle und die rasche Wüstenbildung.

Im Oktober 2013 sank ein Boot vor der Küste von Lampedusa; 360 Menschen kamen ums Leben. In den Medien erschienen Bilder von Särgen in einem Flugzeughangar, geschmückt mit Rosen und Teddybären. In Europa herrschte Mitgefühl vor. 2015 dann gelangten eine Million Geflüchtete aus dem Nahen Osten und Afrika auf dem Landweg, über die Ägäis und das zentrale Mittelmeer nach Europa. «Wir schaffen das», schwor Angela Merkel.

Kein Land stand so sehr im Zentrum der Migration wie Italien, dessen Küste nur wenige Hundert Kilometer von Nordafrika entfernt ist. Anfang 2014 war Matteo Renzi mit 39 Jahren zum jüngsten Premierminister in der Geschichte des Landes gewählt worden. Er setzte sich dafür ein, Geflüchtete willkommen zu heissen. «Ein Europa, das sich beim Anblick von Leichen abwendet, ist es nicht wert, sich ein zivilisiertes Europa zu nennen», sagte er. Der Politiker unterstützte die ehrgeizige Such- und Rettungsmission «Mare Nostrum», die rund 150 000 Menschen die sichere Überfahrt nach Europa ermöglichte.

Als die Fluchtbewegungen anhielten, schlugen Ambivalenz und Ablehnung in Europa jedoch in offenen Rassismus um. Rechtsnationale Parteien wie die AfD und der Front National begannen, gegen Geflüchtete zu hetzen. Renzi rügte die Untätigkeit der anderen europäischen Länder regelmässig. Die Bemühungen, 60 000 Geflüchtete aus Italien und Griechenland in andere europäische Länder umzuverteilen, schlugen fehl; Polen und Ungarn etwa nahmen nicht eine einzige Person auf. Renzi verlor innenpolitisch den Rückhalt und trat zurück.

Den Kurs bestimmte darauf Innenminister Marco Minniti, ursprünglich ein Protegé Renzis. Der damals 65-Jährige, Sohn eines Generals, nannte Renzis Politik eine «Fehlkalkulation». «Wir haben auf zwei sehr starke Gefühle nicht reagiert: Wut und Angst», sagte er der Presse. Minniti ging mit einer solchen Härte gegen Migration vor, dass er als «Minister der Angst» bekannt wurde. Auf sein Drängen hin beendete Italien seine Verpflichtung, Such- und Rettungsmissionen jenseits der eigenen Gewässer durchzuführen. Unter seiner Führung änderte auch die EU ihre Politik: Seenotrettungsorganisationen durften die Menschen nicht mehr in europäische Häfen bringen. Das völkerrechtliche Verbot von Pushbacks, wonach Geflüchtete nicht in die Herkunftsländer zurückgeschickt werden dürfen, wurde fortan missachtet. Mit der Behauptung, Seenotrettungsoperationen seien «Taxidienste für illegale Migration», begannen italienische Staatsanwält:innen, humanitäre Gruppen wegen «Beihilfe zum Menschenschmuggel» zu verfolgen.

2015 schuf die EU den Emergency Trust Fund for Africa (EUTF). In den folgenden vier Jahren finanzierte sie Projekte im Wert von rund 3,9 Milliarden Euro, von denen über ein Viertel an Länder wie Libyen, Tunesien und den Niger ging, damit diese die Migration selbst verhindern. Befürworter:innen stellten den EUTF als humanitäres Programm dar, das der Entwicklung und der Bekämpfung von Menschenhandel diene. In Wirklichkeit ist ein Grossteil darauf ausgerichtet, Einwanderungsbeschränkungen in afrikanischen Ländern zu verschärfen und Grenzschutzoperationen zu finanzieren, damit Geflüchtete nicht nach Europa gelangen.

Durch den EUTF wird die EU-Aussengrenze in den nördlichen Teil des afrikanischen Kontinents verlegt und die polizeiliche Überwachung ausgelagert – mit repressiven Folgen. Seit 2017 hat der Fonds etwa mehr als 22 Millionen Euro gezahlt, um die Präsenz von Sicherheitskräften an den Grenzen zu Mali und dem Niger zu verstärken. Der Trust Fund ist wohl auch deshalb das bevorzugte Instrument für die Auszahlung von EU-Geldern im Migrationsbereich, weil er nicht der Kontrolle des Parlaments unterliegt.

Minniti beschloss, dass Libyen – ein im Grunde gescheiterter Staat und Endstation für viele Geflüchtete – Europas wichtigster Partner werden sollte. 2017 reiste er dorthin, um sowohl mit der damaligen Regierung als auch mit einer Reihe von Milizen Vereinbarungen zu treffen. Italien, Libyen und die EU hielten ihre Kooperation in einer Absichtserklärung fest, in der sie «die feste Entschlossenheit» bekräftigten, «bei der Suche nach Lösungen für das Problem der illegalen Migration durch Libyen zusammenzuarbeiten». In den vergangenen sechs Jahren hat der EUTF rund 450 Millionen Euro dafür bereitgestellt.

«Ist die EU zufrieden? Kein Mensch, der bei klarem Verstand ist, kann mit dem Geschehenen zufrieden sein», sagt Libyens ehemaliger Justizminister Marghani. «Aber die EU besteht aus Politikern. Auch wenn sie nicht zufrieden sind, so haben sie doch zumindest ihr Ziel erreicht: Libyen soll der Bösewicht sein. Sie benutzen das Land als Deckmantel für ihre Politik, während die guten Menschen von Europa sagen, sie böten Geld, um dieses höllische System sicherer zu machen.»

Marco Minniti, der ein Interview für diese Recherche ablehnte, verteidigte seine Bemühungen öffentlich: «Was Italien in Libyen gemacht hat, ist ein Modell für den Umgang mit Fluchtbewegungen, ohne Grenzen oder Stacheldrahtbarrieren zu errichten.» Das Ergebnis seiner Politik ist ein deutlicher Rückgang der Anzahl Geflüchteter. Im ersten Halbjahr 2021 erreichten weniger als 21 000 Menschen Europa über die zentrale Mittelmeerroute, nicht einmal ein Drittel derer, die 2016 im gleichen Zeitraum kamen. Italiens Rechte, die zu Renzis Sturz beigetragen hatte, lobte Minniti für seine Arbeit. «Als wir solche Massnahmen vorschlugen, wurden wir als rassistisch abgestempelt», sagte etwa Matteo Salvini von der rechtsextremen Lega Nord. «Jetzt scheinen endlich alle zu begreifen, dass wir recht hatten.»

Aliou Candé wuchs nahe dem Dorf Sintchan Demba Gaira in Guinea-Bissau auf, drei Autostunden von der Hauptstadt entfernt. Er lebte mit seiner Frau und den beiden Söhnen, acht und fünf Jahre alt, in einem einstöckigen Lehmhaus. Candé war schon immer rastlos; er hörte gerne ausländische Musiker wie Wyclef Jean, Bob Marley und Carlos Djedje, verfolgte aufmerksam europäische Fussballklubs. Er sprach mehrere Sprachen, etwa Bambara, Englisch, Kreol, Französisch und Pulaar, und war gerade dabei, sich Portugiesisch beizubringen, weil er hoffte, eines Tages in Portugal zu leben. «Aliou war ein sehr liebenswerter Junge, der nie in Schwierigkeiten geriet», sagt Jacaria, einer seiner Brüder. «Er war ein harter Arbeiter, den die Leute respektierten.»

Candés Bauernhof produzierte Maniok, Süsskartoffeln und Cashewnüsse – die Nüsse machen neunzig Prozente der Exporte von Guinea-Bissau aus. Zuletzt hatten sich die Wetterbedingungen allerdings verändert, vermutlich als Folge der Klimaerwärmung. «Wir spüren im Winter keine Kälte mehr, und die Hitze kommt früher, als sie sollte», sagt Jacaria. Die Dürreperioden dauerten doppelt so lang wie zu Zeiten, als sein Vater das Land bewirtschaftete. Höhere Temperaturen bedeuteten auch mehr Moskitos, die Krankheiten wie Meningitis verbreiteten. Als einer von Candés Söhnen 2018 an Malaria erkrankte, dauerte die Fahrt ins Spital mit dem Eselskarren einen Tag, und die Krankheit verlief fast tödlich.

Der fromme Muslim Candé sagte oft, er würde vor Gott dabei versagen, seiner Familie alles Nötige zu geben. «Er fühlte sich schuldig», sagt Bobo, ein weiterer Bruder. Hilfe schien es kaum zu geben. «Wir erwarten nichts vom Staat», sagt Jacaria. Er ist schon früher nach Spanien ausgewandert, Denbas nach Italien. Die Brüder schickten Geld und Fotos schicker Restaurants. «Wer ins Ausland geht, bringt das Glück nach Hause», sagt Samba, Candés Vater. Die Familie ermutigte ihn, ebenfalls nach Europa zu reisen, obwohl seine Frau hochschwanger war. Sie versprachen, sich um die Kinder zu kümmern. «Alle aus seiner Generation sind ins Ausland gegangen und hatten Erfolg», habe er zu ihr gesagt, erinnert sich Mutter Aminatta. «Warum also nicht er?»

Im Gepäck hatte Candé zwei Hosen, einen Liebesroman, ein Tagebuch und 600 Euro.

Am Morgen des 13. September 2019 machte sich Aliou Candé auf den Weg nach Europa – im Gepäck einen Liebesroman, zwei Hosen, ein T-Shirt, ein ledernes Tagebuch und 600 Euro. «Ich weiss nicht, wie lange es dauern wird», sagte er an jenem Morgen zu seiner Frau. «Aber ich liebe dich, und ich komme wieder.»

Von Guinea-Bissau fuhr Candé mit dem Auto nach Kolda im Senegal, dann nach Bamako in Mali und weiter nach Ouagadougou in Burkina Faso, bevor er in den Niger und von Niamey nach Agadez reiste, das einst als Tor zur Sahara galt. Früher waren die Grenzen der zentralafrikanischen Länder ebenso offen wie jene in der EU. 2016 halfen EU-Beamte jedoch bei der Umsetzung eines neuen Gesetzes im Niger, des «Loi 36»: Es erklärte die florierende Transitwirtschaft für illegal. Über Nacht wurden Busfahrer und Reiseleiterinnen, die jahrelang Geflüchtete nach Norden gebracht hatten, zu Menschenhändler:innen – und mit Haftstrafen von bis zu dreissig Jahren belegt. Die EU stattete die nigrischen Behörden mit Geld aus, um die Einhaltung des neuen Gesetzes zu überwachen. Um einer Verhaftung zu entgehen, waren die Flüchtenden gezwungen, auf immer gefährlichere Routen auszuweichen.

Candé machte sich zusammen mit sechs anderen Leuten auf den Weg durch die Sahara, sie trampten per Lastwagen und Bus und schliefen am Strassenrand im Sand. «Hitze und Staub, es ist schrecklich hier», sagte Candé am Telefon zu Bruder Jacaria. Er schlich sich durch einen Teil Algeriens, der von Banditen kontrolliert wurde. «Sie nehmen dich gefangen und schlagen dich, bis du irgendwann freikommst», berichtete Candé seiner Familie. «Das ist alles, was es dort gibt.»

Im Januar 2020 erreichte er Marokko – und erfuhr, dass die Überfahrt nach Spanien 3000 Euro koste. So viel Geld hatte er nicht. Jacaria drängte ihn zur Umkehr, aber Candé lehnte ab. «Du hast hart gearbeitet, als du in Europa warst, und der Familie Geld geschickt; jetzt bin ich an der Reihe. Wenn ich ankomme, kannst du zurück zum Hof und dich ausruhen, während ich arbeite», sagte er. Candé änderte seinen Kurs und fuhr nach Libyen, von wo die Überfahrt nach Italien billiger war. Am 10. Dezember traf er in Tripolis ein und mietete ein Zimmer im Flüchtlingsslum Gargaresch. Sein Grossonkel Demba Balde, ein vierzigjähriger ehemaliger Schneider, versteckt sich bereits seit Jahren in Libyen vor den Behörden. Balde verschaffte Candé einen Job als Anstreicher und drängte ihn, seinen Plan, das Mittelmeer zu überqueren, aufzugeben. «Ich habe ihm gesagt, dies sei die Route des Todes.»

Im Mai reiste ich mit meinem Team nach Tripolis, um zum dortigen Lagersystem zu recherchieren. Der Aufenthalt in der Stadt war gefährlich: Bewaffnete Männer in Uniformen standen an fast jeder Kreuzung herum. Kaum ein westlicher Journalist darf nach Libyen einreisen, mithilfe einer NGO erhielten wir allerdings ein Visum. Kurz nach der Ankunft stattete ich mein Team mit Peilsendern aus für den Fall, dass jemand verschwindet, und ich forderte alle auf, eine Kopie des Passes in die Schuhe zu stecken. Wir kamen in einem Hotel in der Nähe des Zentrums unter und bekamen ein Sicherheitsteam zugewiesen. Ich hatte das Gefühl, wir stünden unter Beobachtung der Behörden.

Libyen war nicht immer ein unwirtlicher Ort für Geflüchtete gewesen. Mit einem der grössten Ölvorkommen der Welt zog es in den sechziger Jahren Arbeiter:innen aus den benachbarten arabischen Ländern an. In den neunziger Jahren führte das panafrikanische Engagement von Libyens Machthaber Muammar al-Gaddafi zum Zuzug von Menschen aus dem subsaharischen Teil des Kontinents.

2007 begann sich die libysche Haltung gegenüber Migrant:innen zu ändern: Für Araberinnen und Afrikaner wurden unterschiedliche Visabestimmungen eingeführt, die die früheren Wanderarbeiter:innen zu «Illegalen» machten. 2008 unterzeichnete der damalige italienische Ministerpräsident Silvio Berlusconi mit Gaddafi einen «Freundschaftsvertrag», in dem sich die Länder unter anderem zur Zusammenarbeit bei der «Eindämmung illegaler Migration» verpflichteten. Gaddafi nutzte dieses Abkommen als Druckmittel. 2010 drohte er etwa damit, Europa «schwarz zu färben», wenn die EU ihm nicht Millionen US-Dollar an Hilfsgeldern aushändige.

Im Oktober 2011 wurde Gaddafi gestürzt, Libyen versank immer tiefer im Chaos. Die unkontrollierten, abgelegenen Strände entlang der Westküste wurden für Flüchtende zu beliebten Abfahrtsorten. Heute konkurrieren zwei Regimes um die Legitimität: Die von der Uno anerkannte Regierung der nationalen Einheit hält Tripolis und den grössten Teil Westlibyens, während die von Russland und der «Libyschen Nationalarmee» unterstützte Übergangsregierung den grössten Teil Ostlibyens kontrolliert. Beide stützen sich auf wechselnde Allianzen mit bewaffneten Milizen, die einen Grossteil des Landes beherrschen.

Auch die libysche Küstenwache passt perfekt in diese Gemengelage: Die Behörde hat kein einheitliches Kommando, sondern besteht aus einer Reihe lokaler Patrouillen. Sie wird seit Jahren mit diversen Milizen in Verbindung gebracht und von der Uno wiederholt beschuldigt, beim Menschenhandel mit diesen zu kooperieren. Eigentlich wäre die Küstenwache dazu da, das Land vor äusseren Bedrohungen zu schützen – doch die libysche Küstenwache schützt Europa vor den Geflüchteten.

Zunehmend geriet sie in Konflikt mit den Seenotrettungsschiffen von NGOs. So etwa Ende 2017, als ein Schiff von Sea-Watch auf Notrufe eines sinkenden Flüchtlingsboots reagierte. Als die NGO zwei Schlauchboote aussetzte, um die Menschen zu bergen, traf die «Ras Jadir» der libyschen Küstenwache ein und manövrierte so nahe heran, dass die Boote in den Fluten kenterten. Bevor die Menschen an Bord des Sea-Watch-Schiffs gehen konnten, holte die «Ras Jadir» sie aus dem Wasser. «Wir hatten das Gefühl, dass sie bloss so viele Menschen wie möglich nach Libyen zurückbringen wollen, ohne sich darum zu kümmern, dass jemand ertrinken könnte», erinnert sich Johannes Bauer, an diesem Tag Einsatzleiter der «Sea-Watch». Mindestens zwanzig Menschen kamen ums Leben, darunter ein zweijähriger Junge.

Bislang hat die Küstenwache nahezu ungestraft operiert. Im Oktober 2020 wurde Abdel-Rahman al-Milad, ein berüchtigter Kommandant in der Küstenstadt Sawija von der Polizei verhaftet, weil er wegen seiner Beteiligung an Menschenhandel auf der Sanktionsliste des Uno-Sicherheitsrats gelandet war. Uno-Beamte hatten ihm vorgeworfen, «unter dem Einsatz von Schusswaffen direkt an der Versenkung von Flüchtlingsbooten» beteiligt gewesen zu sein. Im April liess der libysche Generalstaatsanwalt die Anklage aus Mangel an Beweisen fallen, Milad wurde aus der Haft entlassen.

In Italien ist Milad, Deckname «Bija», ein alter Bekannter. 2017 hatte er an Treffen mit den Behörden in Rom und auf Sizilien teilgenommen, bei denen er von der Regierung mehr Mittel für die Verwaltung Geflüchteter forderte, die nach Libyen zurückgebracht werden. Nachdem italienische Journalisten über seine Missetaten berichtet hatten, sprach Milad über Social Media Morddrohungen gegen sie aus, sodass sie unter Polizeischutz gestellt werden mussten.

Am 3. Februar 2021 um 22 Uhr verliessen Aliou Candé und die anderen Flüchtenden an Bord eines aufblasbaren Schlauchboots die libysche Küste. Der Himmel war bewölkt und die Luft kühl. Einige stimmten begeistert ein Lied an. Gegen Mitternacht erreichte das Boot die hohe See. Lampedusa, ihr geplantes Ziel, war nur noch einige Hundert Meilen entfernt und Candé voller Hoffnung. Er sagte den anderen an Bord zuversichtlich, er sei nicht nur sicher, es nach Europa zu schaffen, sondern auch, dass er darüber nachdenke, es in Zukunft mit Frau und Kindern noch einmal zu versuchen.

Bald schon wurde die See rauer. Die Flüchtenden sassen so dicht gedrängt, dass sich niemand die Beine vertreten konnte. Die anschwellenden Wellen und die Abgase des Motors machten fast alle seekrank. Ein Streit brach aus, jemand drohte, das Boot mit einem Messer aufzuschlitzen. «Jeder fing an, nach seinem Gott zu rufen», erinnert sich Candés Freund Mohamed David Soumahoro, der sich ebenfalls auf dem Boot befand. «Einer rief nach Allah, der andere nach Jesus, andere nach diesem oder jenen.»

Im Morgengrauen beruhigte sich das Wasser, und als die Flüchtenden feststellten, dass sie weit genug von Libyen entfernt waren, benutzten sie ihr Satellitentelefon, um Hilfe zu rufen. Ein Mitarbeiter der NGO Alarm Phone teilte ihnen mit, dass sich nicht weit entfernt ein Handelsschiff befinde. «Bosa, frei, bosa, frei», begannen Candé und die anderen zu skandieren, was auf Fulfulde so viel wie Sieg bedeutet. Candé wandte sich an Soumahoro, dessen Augen vor Freude leuchteten, und sagte: «Inschallah, wir werden es schaffen! Italien!» Doch als das Handelsschiff eintraf, erklärte der Kapitän, sein Schiff habe keine Rettungsboote, und steuerte schnell davon.

Inzwischen war Candés Schiff mehr als siebzig Meilen von der libyschen Küste entfernt und befand sich in internationalen Gewässern, aber immer noch innerhalb der offiziellen Such- und Rettungszone der libyschen Küstenwache. Am 4. Februar bemerkten Candé und die anderen gegen 17 Uhr ein Flugzeug, das fünfzehn Minuten über ihnen kreiste und dann davonflog. Daten des Flugzeugtrackers ADS-B Exchange zeigen: Bei dem Überwachungsflugzeug mit dem Namen Eagle 1 handelte es sich um eine weisse Beech King Air 350, die von der EU-Grenzschutzagentur Frontex geleast worden war. Etwa drei Stunden später tauchte ein Boot am Horizont auf. «Je näher es kam, desto deutlicher sahen wir die schwarz-grünen Linien der Flagge», sagt Soumahoro. Sie hätten die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen und gesagt: «Scheisse, sie ist libysch.»

Das Schiff, ein Vittoria-P350-Patrouillenboot, war im Oktober von der EU geliefert und feierlich enthüllt worden. Es rammte das Flüchtlingsboot dreimal und forderte die Menschen dann auf, über eine Leiter an Bord zu klettern. Nach der Rückkehr an Land wurden die Menschen von Mitarbeiter:innen der Internationalen Organisation für Migration der Uno (IOM) gezählt und dann von bewaffneten libyschen Wachen in Busse und Lastwagen verladen und nach al-Mabani gefahren.

Als ich nach Libyen kam, war es längst kein Geheimnis mehr, dass in den Gefängnissen schreckliche Dinge geschahen. Dennoch versprachen mir libysche Regierungsvertreter, dass ich al-Mabani besichtigen und eine Einheit an Bord eines Schiffes der libyschen Küstenwache begleiten dürfe. Nach mehreren Versuchen wurde jedoch klar, dass beides nicht zustande kommen würde. In der Hoffnung, einen Blick ins Innere des Gefängnisses werfen zu können, fand unser Team eines späten Nachmittags eine versteckte Gasse, die knapp einen Kilometer von der Haftanstalt entfernt lag, startete eine kleine Videodrohne und flog damit über den Innenhof von al-Mabani: hoch genug, um von den Wachen nicht bemerkt zu werden. Auf dem Monitor sahen wir, dass etwa 65 Häftlinge in einer Ecke des Innenhofs sassen, dicht gedrängt, unbeweglich, mit gesenkten Köpfen, angewinkelten Knien, verschränkten Beinen und Händen, die den Rücken des Vordermanns berührten. Als jemand einen Blick zur Seite wagte, schlug ihm ein Wachmann auf den Kopf.

Als Europa sich an Libyen wandte, damit es Geflüchtete abfängt, existierten bereits diverse offizielle Gefängnisse und improvisierte Haftzentren. Während der jahrzehntelangen autoritären Herrschaft und des Bürgerkriegs hat das Land eine Vielzahl von Einrichtungen gebaut: für politische Gefangene, Mitglieder rivalisierender Milizen oder ausländische Söldner. Nach der Unterzeichnung des Abkommens mit der EU wurden diese Gefängnisse sowie Industrieanlagen und Militäreinrichtungen zu Haftanstalten für Geflüchtete. Derzeit gibt es etwa fünfzehn solcher Lager – wobei die Zahl der sich in Betrieb befindlichen Einrichtungen schwankt.

Niemand stellt sicher, dass die Menschen in die offiziellen Einrichtungen gelangen.

Eigentlich sollten alle, die vom Meer zurückkehren, in offizielle Haftanstalten gebracht werden. In der Regel werden die Leute in Busse verladen – einige davon von der EU bereitgestellt – und zu den Auffanglagern gebracht. Obwohl viele dieser Busse mit GPS-Geräten ausgestattet sind, verfolgt niemand ihre Routen, um sicherzustellen, dass die Menschen in die offiziellen Einrichtungen gelangen. «Sobald sie in die Busse einsteigen, verschwinden sie in einem schwarzen Loch», schreibt Amnesty International in einem Bericht.

Im ersten Halbjahr dieses Jahres griff die libysche Küstenwache mehr als 15 000 Menschen auf See auf, in den offiziellen Hafteinrichtungen kamen allerdings bloss 6100 an. «Die Zahlen stimmen einfach nicht überein», sagt Federico Soda, der Leiter der IOM-Mission in Libyen. Die Lücke in der Statistik deute darauf hin, dass viele Geflüchtete in den «inoffiziellen» Lagern verschwinden, die von Schleusern und Milizen betrieben würden und zu denen Hilfsorganisationen keinen Zugang hätten.

Al-Mabani wurde von Emad al-Tarabulsi eröffnet, einem führenden Mitglied der Sintan-Brigaden. Die Miliz hat Verbindungen zum Sintan-Stamm, der 2011 zu Gaddafis Sturz beitrug. Heute ist die Gruppe mit der von der Uno unterstützten Regierung der Nationalen Einheit verbündet, der Tarabulsi kurzzeitig als Geheimdienstchef diente.

Das Gefängnis entstand in einer von Tarabulsis Miliz kontrollierten Ecke der Stadt. Innert weniger Wochen explodierte die Zahl der Insassen. Tarabulsi ernannte einen Stellvertreter, Nureddine al-Ghritli, einen wortkargen Milizkommandanten, zum Gefängnisleiter. Zuvor war Ghritli für das Tajura-Lager zuständig gewesen, das für seine Brutalität berüchtigt war. In einem Bericht von Human Rights Watch aus dem Jahr 2019 schilderten sechs Häftlinge, darunter zwei sechzehnjährige Jungen, sie seien von den Wärtern schwer geschlagen worden; eine Frau beschrieb, dass sie wiederholt sexuell missbraucht worden sei.

Uno-Ermittler:innen zufolge mussten die Geflüchteten im Lager von Tajura auch Zwangsarbeit für die Sintan-Brigade leisten: Waffen reinigen, Munition lagern und Militärtransporte entladen. Im Juli 2019 griffen Rebellen im Kampf gegen die libysche Regierung den Militärstützpunkt aus der Luft an und zerstörten dabei auch die Hallen, in denen die Geflüchteten festgehalten wurden. Über fünfzig Menschen kamen dabei ums Leben, darunter sechs Kinder. Die meisten Überlebenden wurden anschliessend nach al-Mabani umgesiedelt.

Wie die EU-Gelder zur Finanzierung der Haftanstalten verwendet wurden, lässt sich nicht genau feststellen. In Artikel 2, Abschnitt 2 des ursprünglichen Abkommens mit Libyen versprach die EU, den Betrieb der Haftzentren zu finanzieren und zu sichern. Sie bestreitet nicht, dass Misshandlungen in den Haftanstalten weitverbreitet sind, betont aber, dass sie die Lager oder die Milizen, die sie betreiben, nicht direkt finanziere. Als Josep Borrell, der Vizepräsident der EU-Kommission, letztes Jahr während einer Parlamentssitzung auf die Misshandlung Geflüchteter angesprochen wurde, sagte er, dass die Entscheidung, Menschen willkürlich festzuhalten, in der alleinigen Verantwortung der libyschen Regierung liege. «Die Kommission unterstützt das Inhaftierungssystem nicht.»

Das sei eine leere Behauptung, sagt die grüne niederländische EU-Parlamentarierin Tineke Strik, die sich intensiv mit dem Thema beschäftigt hat. «Wenn die EU die libysche Küstenwache nicht finanzieren würde, gäbe es keine Rückschaffungen und keine Überweisungen in diese schrecklichen Haftzentren.» Ein interner EU-Bericht aus dem Jahr 2019 räumte dies ein – und warnte davor, dass ein Teil der jüngsten Finanzspritze, etwa neunzig Millionen Euro, wahrscheinlich in den Betrieb der Haftzentren fliessen würde, was zu einer verstärkten Ausbeutung und Misshandlung von Geflüchteten führen würde.

Mit den Gefängnissen wird nicht nur ein Versprechen an Europa erfüllt, sondern auch Geld für die Milizen verdient, die sie betreiben. Eines der einfachsten Geschäfte ist die «Umleitung von Hilfsgütern», bei der die Milizen Geld oder Güter von humanitären Gruppen abzweigen, die für die Gefangenen bestimmt sind. Dies bestätigte ein vom EU-Treuhandfonds in Auftrag gegebener Bericht.

Gesetze aus der Gaddafi-Ära machen es möglich, dass Ausländer:innen, die sich illegal in Libyen aufhalten, als Strafe zur Arbeit ohne Bezahlung gezwungen werden können. 2017 strahlte CNN Aufnahmen einer sklavenmarktähnlichen Auktion aus, bei der Geflüchtete in die Landwirtschaft und auf den Bau verkauft wurden: Über ein Dutzend Geflüchtete aus al-Mabani und anderen Lagern – einige erst vierzehn Jahre alt – berichteten Amnesty International dieses Jahr, sie seien gezwungen worden, auf dem Bau, auf Bauernhöfen oder in Privathäusern von Milizenführern zu arbeiten, in Militärlagern Waffen zu reinigen oder sie zu laden.

Die wohl am weitesten verbreitete Methode ist Erpressung. In den Haftanstalten hat alles seinen Preis: Schutz, Nahrung, Medizin und vor allem die Freiheit. Ein Grossteil des Geldes stammt aus Lösegeld, das Familien für die Freilassung eines Gefangenen zahlen. «Viele werden nach ihrer Freilassung von einer anderen Gruppe festgehalten – was dazu führt, dass sie mehrfach Lösegeld an verschiedene Gruppen zahlen müssen», heisst es in der EUTF-Studie.

Anfang 2021 traf General al-Mabruk Abdel-Hafis, der die Direktion für die «Bekämpfung illegaler Migration» der Regierung der Nationalen Einheit leitet, die für die Haftanstalten zuständig ist, den deutschen Botschafter in Libyen. Dabei räumte er die brutalen Bedingungen in den Gefängnissen ein. Er und sein Land seien mit einer unmöglichen Aufgabe betraut, meinte Abdel-Hafis in der Besprechung. «Libyen ist kein Transitland mehr, sondern ein Opfer: allein gelassen mit einer Krise, die die Länder der Welt nicht bewältigen können.» In der Hoffnung auf einen Einblick ins Al-Mabani-Lager rief ich Direktor Ghritli an. Ich fragte ihn nach den Misshandlungsvorwürfen. Die Antwort war brüsk: «Missbrauch kommt nicht vor», sagte er. Und legte dann auf.

Einige Tage nach meiner Ankunft in Libyen sprach ich mit ehemaligen Häftlingen im Geflüchtetenslum Gargaresch. Während des Zweiten Weltkriegs hiess das Quartier Campo 59 und diente als Internierungslager für Kriegsgefangene, das zunächst von den Italienern und dann von den Deutschen betrieben wurde. Heute ist es ein Bienenstock mit Cafés, Fastfoodläden und Geschäften für Handys, Videospiele und Schmuck. Razzien von Behörden und Milizionären, die angeblich gegen Drogenhandel, Prostitution und andere illegale Aktivitäten vorgehen, gehören zum Alltag.

Candés Freund Soumahoro, mit dem dieser zusammen auf dem Boot gewesen war und der vor kurzem aus al-Mabani entlassen worden war, traf sich mit mir heimlich im fensterlosen Schlafzimmer eines Backsteingebäudes. Bei einer Mahlzeit erzählte er mir von seiner Zeit mit Candé im Gefängnis. «Es fällt mir wirklich schwer, darüber zu sprechen.»

In al-Mabani kann man schon geschlagen werden, wenn man bloss in seiner Muttersprache redet, mit anderen Insassen flüstert oder lacht. Die schlimmsten Misshandlungen erfolgen im sogenannten Isolationsraum: einer verlassenen Tankstelle, vor der ein Schild von Shell hängt. Wehren sich die Geflüchteten gegen die Zustände, werden sie dorthin gebracht – und müssen teils tagelang bleiben. Die Zelle hat keine Toilette, sodass den Inhaftierten nichts anderes bleibt, als sich in einer Ecke zu erleichtern. Der Geruch ist so streng, dass die Wärter bei ihren Besuchen Masken tragen. Wenn sie sie schlagen, binden die Wärter die Hände der Häftlinge an ein von der Decke baumelndes Seil.

Er habe gesehen, wie im Isolationsraum gefoltert wurde, erzählt Soumahoro. «Es ist nicht so schlimm, einen Mann schreien zu sehen, während er gefoltert wird, aber zu sehen, wie ein 1,80 Meter grosser Mann eine Frau auspeitscht …» Im März trat Soumahoro aus Protest gegen die Gewalt in den Hungerstreik und kam für eine Woche in den Isolationsraum. Dort wurde er kopfüber an einen Balken gehängt und immer wieder geschlagen.

Mehrere Gefangene, mit denen ich sprechen konnte, berichten von sexuellem Missbrauch und Demütigungen durchs Wachpersonal. Adjara Keita, eine 36-Jährige aus Côte d’Ivoire, die zusammen mit ihrer 14-jährigen Tochter zwei Monate in al-Mabani festgehalten wurde, erzählt, dass Frauen häufig aus ihrer Zelle geholt würden, um von den Wärtern vergewaltigt zu werden. «Sie kamen weinend zurück.» Nach der Flucht zweier Frauen hätten die Wärter Keita eines Tages gepackt und sie in einem nahe gelegenen Büro geschlagen.

Weil die Wächter Geflüchtete für sich arbeiten lassen, haben sie die Gefangenen fest im Blick. Dies liefert ihnen wertvolle Informationen und schürt gleichzeitig das Misstrauen: Gelingt es, die Gefangenen zu spalten, hat man sie besser unter Kontrolle. Mohammad Soumah, ein 23-Jähriger aus Guinea, einem Nachbarland von Guinea-Bissau, meldete sich nach seiner Ankunft freiwillig, um bei täglichen Aufgaben zu helfen, und wurde schon bald nach Informationen ausgequetscht: Welche Häftlinge mögen sich nicht? Wer sind die Aufwiegler?

Als die Vereinbarung formalisiert wurde, nannten ihn die anderen Insassen «mandoob», arabisch für «Vertreter». Wenn Geflüchtete Lösegeld für die Ausreise zahlten, übernahm er die Preisverhandlungen. Irgendwann erlaubten ihm die Wachen als Geschenk für seine Loyalität, Häftlinge auszuwählen, die freigelassen werden sollen. Soumah konnte das Lager sogar verlassen, obwohl er nie weit wegging. «Ich wusste, dass sie mich finden und schlagen würden, wenn ich versuchen würde zu fliehen», sagt er.

Mitarbeiter:innen verschiedener humanitärer Gruppen dürfen in regelmässigen Abständen nach al-Mabani. Nur wenige Wochen nach der Inhaftierung von Candé reagierte das International Rescue Committee auf einen Hilferuf der Miliz: In al-Mabani fehle es an Wasser und anderen Grundversorgungsmitteln. Die Wärter befürchteten, dass die Häftlinge sterben oder revoltieren könnten. Am nächsten Tag lieferten Helfer:innen Wasser und Decken. Doch nachdem sie herausgefunden hatten, dass das Wachpersonal einen Teil der Vorräte für sich behielt, kündigten sie an, al-Mabani nicht mehr zu besuchen.

Die Hilfsorganisation Médecins Sans Frontières (MSF) besuchte das Lager zweimal pro Woche. Die Alarmzeichen waren unübersehbar: Gefangene waren mit blauen Flecken und Schnittwunden übersät, mieden jeden Blickkontakt mit den Wärtern und schreckten bei lauten Geräuschen hoch. Manchmal steckten sie den Besucher:innen heimlich verzweifelte Nachrichten zu, die sie auf die Rückseite zerrissener WHO-Broschüren geschrieben hatten. Sie erzählten den MSF-Mitarbeiter:innen, sie hätten das Gefühl, «verschwunden» zu sein. Das Erste, was viele fragten: ob jemand ihren Familien sagen könne, dass sie am Leben seien.

Bei einem Besuch konnten die MSF-Helfer:innen Candés Zelle nicht betreten, weil sie so überfüllt war. Sie schätzten, dass auf einen Quadratmeter drei Häftlinge kamen. Stattdessen behandelten sie neunzehn Menschen im Innenhof. Die akute Überbelegung hatte auch zur Verbreitung von Tuberkulose, Windpocken, Pilzinfektionen und Covid-19 geführt. Die Ärzt:innen erfuhren von Schlägen in der Nacht zuvor und zählten Brüche, Schnitte, Abschürfungen und stumpfe Verletzungen. Sie taten ihr Bestes, um ein Kind zu behandeln, das so schwer verletzt war, dass es nicht laufen konnte. Ende März besuchte Cherif Khalil, ein Beamter der Botschaft von Guinea, das Gefängnis. Candé stellte sich in der Schlange an, gab vor, aus Guinea zu sein, und fragte, ob die Botschaft bei seiner Befreiung helfen könne. «Er war verzweifelt», erzählt Khalil.

Auf halbem Weg zum Essen mit Soumahoro begann mein Telefon, unaufhörlich zu klingeln. Als ich den Hörer abnahm, schrie mich ein Polizist an. «Sie dürfen nicht mit Migranten sprechen. Sie dürfen nicht in Gargaresch sein.» Er sagte, ich würde verhaftet werden, wenn ich das Viertel nicht sofort verlasse. Als ich zu meinem Auto zurückkehrte, stand dort ein Polizist. Es interessiere ihn nicht, dass ich Journalist sei, sagte er. Man würde mich aus dem Land werfen, sollte ich noch einmal mit Geflüchteten sprechen. Danach durften mein Team und ich uns nicht mehr weit vom Hotel entfernen. Um keinen Verdacht zu erregen, musste ich ehemalige Häftlinge, die ihre Geschichte erzählen wollten, heimlich hineinschmuggeln.

Während Candé lernte, in Zelle Nummer vier zu überleben, vertrieb er sich die Zeit damit, die Menschen zu beobachten, die Szenerie zu studieren und sich manchmal im Flüsterton zu unterhalten. Sein Freund Tokam Martin Luther berichtet in seinem Tagebuch davon, wie sie versucht hätten, mit Vokabellisten Arabisch zu lernen, und beschreibt ausführlich ihre Pokerspiele. Candé und Luther erfanden Spitznamen für die Wärter, die in der Regel auf deren Befehlen beruhten. Da war etwa «Chamsa Chamsa» («fünf, fünf»), der die Häftlinge während der Mahlzeiten daran erinnerte, dass sich fünf Personen eine Schüssel teilen müssten. Ein anderer Wachmann, «Gamis» genannt, arabisch für «Setz dich», sorgte dafür, dass niemand aufstand. «Schweigen» regelte das Geplauder.

Die Hoffnung, dass die Häftlinge zum Ramadan freigelassen würden, hatte sich zerschlagen. Luther versuchte, es mit Fassung zu tragen: «So ist das Leben in Libyen. Wir werden uns noch gedulden müssen, um unsere Freiheit zu geniessen.» Doch Candé war niedergeschlagen.

Bei seiner Festnahme hatte die Küstenwache es versäumt, sein Mobiltelefon zu konfiszieren. Die meiste Zeit seiner Inhaftierung hatte er es versteckt gehalten, weil er sich sicher war, dass seine Familie nichts für ihn tun konnte und dass er hart bestraft werden würde, sollte es entdeckt werden. Doch Ende März war er verzweifelt genug und schickte seinen Brüdern eine Sprachnachricht über Whatsapp. Darin versuchte er, die Dringlichkeit seiner Situation zu erklären: «Du kannst das Telefon hier nicht zu lange anlassen. Wir haben versucht, auf dem Wasserweg nach Italien zu gelangen. Sie haben uns erwischt und zurückgebracht. Jetzt sind wir eingesperrt.» Er flehte sie an: «Findet einen Weg, unseren Vater anzurufen.» Dann wartete er und hoffte, dass sie es irgendwie schaffen würden, das Lösegeld zusammenzukratzen.

Am 8. April um zwei Uhr morgens wurde Candé von einem Geräusch an der Vorderseite von Zelle Nummer vier geweckt: Mehrere sudanesische Gefangene versuchten, die Eingangstür aufzubrechen und zu entkommen. Candé, der befürchtete, dass alle für diese Aktion bestraft würden, weckte Soumahoro, der mit einem Dutzend anderer Männer auf die Sudanesen zustürmte. «Tut das nicht», sagte er ihnen. «Wir haben schon mehrmals versucht auszubrechen. Es hat nie geklappt. Wir wurden nur verprügelt.» Als die Sudanesen nicht auf sie hören wollten, wies Soumahoro Candé an, die Wachen zu alarmieren. Einer der Wächter versperrte die Zellentür mit einem Wagen.

Die Sudanesen fühlten sich betrogen und wurden gewalttätig. Sie rissen Eisenrohre von der Wand und schlugen damit auf jene ein, die sich eingemischt hatten. Ein Mann wurde am Auge getroffen, ein anderer fiel blutend zu Boden. Die Gruppen bewarfen sich gegenseitig mit Gegenständen aus der Zelle: Seifenstücken, Plastikeimern, Shampooflaschen, Schuhen und zerbrochenen Gipsplatten. Candé versuchte, sich aus dem Handgemenge herauszuhalten, und ging in Deckung. «Ich werde nicht kämpfen», sagte er zu Soumahoro. «Ich bin die Hoffnung meiner ganzen Familie. Ich will nicht, dass mir etwas zustösst.»

Die Wärter feuerten zehn Minuten lang durch das Badezimmer­fenster.

Die Schlägerei dauerte dreieinhalb Stunden. Irgendwann begannen einige, um Hilfe zu bitten. «Öffnen Sie die Tür!», riefen sie den Wachen zu. «Helft uns, bitte.» Stattdessen lachten diese und filmten die Auseinandersetzung mit ihren Handys, als wäre es ein Käfigkampf. Irgendwann schlug die Stimmung der Wärter um; um 5.30 Uhr kehrten sie mit halbautomatischen Gewehren zurück. Ohne Vorwarnung feuerten sie zehn Minuten lang durch das Badezimmerfenster. «Es klang wie auf einem Schlachtfeld», sagt Soumahoro. Ismail Doumbouya, ein achtzehnjähriger Junge aus Guinea, wurde in den Oberschenkel getroffen, sein siebzehnjähriger Landsmann Ayouba Fofana oberhalb des linken Knies.

Während des Kampfs hatte sich Candé in der Dusche versteckt. Eine Kugel traf ihn in den Nacken. Er taumelte blutüberströmt an der Wand entlang und fiel dann zu Boden. «Er wurde getroffen!», schrie einer, der in der Nähe stand. Soumahoro legte Candé auf den Boden und versuchte, die Blutung mit einem Stück Stoff zu stillen. Zehn Minuten später war Candé tot.

Gefängnisleiter al-Ghritli traf einige Stunden nach der Schiesserei im Lager ein und brüllte die Wächter an: «Was habt ihr getan! Ihr könnt alles mit ihnen machen. Nur töten könnt ihr sie nicht.» Die Gefangenen weigerten sich, Candés Leiche auszuhändigen, wenn sie nicht freigelassen würden, und die Wachen, die in Panik geraten waren, riefen Soumah an, den Vermittler, um ein Ende der Pattsituation auszuhandeln.

Schliesslich stimmte die Miliz den Bedingungen zu. «Ich werde diese Tür öffnen, und ihr werdet rauskommen», sagte Soumah. «Aber es gibt eine Bedingung. Wenn ihr rauskommt, macht keinen Ärger.» Kurz vor neun Uhr öffnete Soumah das Tor. Die Wachen bezogen in der Nähe mit erhobenen Gewehren Stellung, und Soumah forderte die 300 Häftlinge auf, ihm langsam zu folgen: in einer Reihe, ohne zu sprechen. Einige morgendliche Pendler:innen hielten an, um die Schlange zu bestaunen, die das Gelände verliess und sich in den Strassen von Tripolis auflöste.

An meinem sechsten Tag in Libyen rekonstruierte ich die Einzelheiten von Candés Tod im Gefängnis. Wir befragten Dutzende Häftlinge, Beamte, Helfer:innen und anderen Personen: Schnell wurde klar, dass das Hotelpersonal – ganz zu schweigen von den privaten Sicherheitsleuten, die uns eigentlich beschützen sollten – jeden unserer Schritte den Behörden melden. Am 23. Mai, einem Sonntag, machte ich dann meine eigene Erfahrung mit dem «Verschwinden».

Kurz vor 20 Uhr sass ich in meinem Hotel und telefonierte mit meiner Frau in Washington, als ich ein Klopfen an der Tür hörte. Als ich sie öffnete, stürmte ein Dutzend bewaffnete Männer in den Raum, sie hielten mir eine Pistole an die Stirn und schrien: «Runter auf den Boden!» Sie stülpten mir eine Kapuze über den Kopf und begannen, mich zu schlagen und zu treten, sodass ich zwei gebrochene Rippen und eine Nierenverletzung davontrug. Dann zerrten sie mich aus meinem Zimmer.

Zu dieser Zeit war mein Team auf dem Weg zum Abendessen in der Nähe unseres Hotels. Ein weisser Pick-up rammte ein Auto vor ihnen und blockierte damit die Strasse. Sechs maskierte Männer mit halbautomatischen Waffen sprangen aus dem Fahrzeug. Der Fahrer des Teams wurde aus dem Wagen geholt und mit der Pistole geschlagen. Dann verbanden die Männer meinen Kollegen die Augen und fuhren sie weg. Wir wurden in einen Verhörraum an einem geheimen Ort gebracht. Ich wurde mehrmals geschlagen. Ich konnte hören, wie die Männer mein Team bedrohten. Nach ein paar Stunden nahmen sie uns Gürtel, Ringe und Uhren ab und steckten uns in Zellen.

Unsere Verhörer prahlten damit, dass sie bereits unter Gaddafi zusammen­gearbeitet hatten.

Später habe ich durch den Abgleich von Satellitenbildern mit Orientierungspunkten, die ich aus der Haft erspäht habe, herausgefunden, dass wir uns in einem geheimen Gefängnis in einem stillgelegten Teil des Hafens al-Schahab in Tripolis befanden. Unsere Entführer sagten uns, dass sie zum «libyschen Geheimdienst» gehörten, von dem ich später erfuhr, dass er eine Antiterror- und Antispionagebehörde ist, die zur Regierung der Nationalen Einheit gehört und von einer Miliz namens Al-Nawasi-Brigade geleitet wird. Unsere Verhörer prahlten damit, dass sie bereits unter Gaddafi zusammengearbeitet hatten.

Ich wurde in einer Isolierzelle untergebracht, die mit einer Toilette, einer Dusche, einer Schaumstoffmatratze auf dem Boden und einer Kamera an der Decke ausgestattet war. In der Tür befand sich ein kleiner rechteckiger Schlitz, durch den die Wärter zweimal am Tag Dosen mit Reis oder Flaschen mit Wasser reichten. Jeden Tag wurde ich bis zu fünf Stunden am Stück verhört. «Wir wissen, dass Sie für die CIA arbeiten», sagte ein Mann immer wieder zu mir. «Hier in Libyen wird Spionage mit dem Tod bestraft.»

Manchmal legte er eine Pistole vor mir auf den Tisch oder richtete sie auf meinen Kopf. Für meine Entführer waren die Massnahmen, die ich zum Schutz meines Teams ergriffen hatte, ein Schuldbeweis. Warum sollten sie Peilsender tragen? Warum Bargeld und Kopien ihrer Pässe in ihren Schuhen? Und warum bewahrte ich ein Paket mit Papieren mit der Überschrift «Geheimdokument» auf (eine Liste von Notfallkontakten mit der Überschrift «Sicherheitsdokument»)?

Dass ich Journalist bin, schien ebenfalls ein Verbrechen zu sein. Die Entführer erklärten, es sei illegal, Geflüchtete, Ärzte oder Botschaftsmitarbeiterinnen zu den Missständen in al-Mabani zu befragen. «Warum versuchen Sie, Libyen zu blamieren?», fragten sie. Sie sagten, die USA hätten ihre eigenen Probleme: «Ihr habt George Floyd umgebracht.» Ich wurde immer verzweifelter. Irgendwann nahm ich die Rohrleitungen der Toilette auseinander – in der Hoffnung, mit einem Metallstück die Gitterstäbe des Fensters auseinanderzubiegen. Dann klopfte ich an die Zellenwand und hörte, wie einer aus meinem Team aus der Zelle nebenan zurückklopfte. Das empfand ich als beruhigend.

Glücklicherweise hatte meine Frau den Beginn meiner Entführung am Telefon mitbekommen und die US-Regierung informiert. Schliesslich begannen das Aussenministerium und das niederländische Aussendepartement (ein Mitglied meines Teams stammt aus den Niederlanden), sich beim Präsidenten der Regierung der Nationalen Einheit für unsere Freilassung einzusetzen. Einmal wurden wir aus unseren Zellen geholt, um ein Video aufzunehmen: als Beweis, dass wir noch am Leben waren. Die Wärter sagten, wir sollten uns das Blut und den Schmutz aus dem Gesicht waschen und uns auf eine Couch vor einem Tisch mit Limonade und Gebäck setzen. «Lächeln!», sagten sie und wiesen uns an, in die Kamera zu sagen, dass wir menschlich behandelt würden.

Nach fünf Tagen in Gefangenschaft willigte die Brigade ein, uns gehen zu lassen. Wir mussten ein «Geständnis» unterschreiben, das auf Arabisch verfasst war und mit einem Briefkopf der «Abteilung für die Bekämpfung von Feindseligkeiten» versehen war. Als wir verlegen nach dem Inhalt der Dokumente fragten, lachten unsere Entführer.

Diese Erfahrung – zutiefst erschreckend, aber zum Glück nur kurz – bot einen kleinen Einblick in die Welt der unbefristeten Haft in Libyen. Später habe ich oft darüber nachgedacht, wie lange Candé gefangen gehalten wurde und wie viel brutaler dies war. Am 28. Mai, dem Morgen, an dem wir abreisen sollten, wurden mein Team und ich aus unseren Zellen entlassen und zur Tür begleitet. Wir wurden aus dem Land geflogen: offiziell abgeschoben wegen des Verbrechens, über Geflüchtete berichtet zu haben.

In den Wochen nach Aliou Candés Tod verbreitete sich die Nachricht in der Stadt schnell. Schliesslich erreichte sie Ousmane Sane, den 44-jährigen inoffiziellen konsularischen Vertreter aus Guinea-Bissau. Sane ging mit Balde, dem Onkel von Candé, zur Polizeistation in der Nähe von al-Mabani, wo sie eine Kopie des Autopsieberichts erhielten. Die Behörden kannten nicht einmal Candés Namen. Der Bericht deutete darauf hin, dass er bei einem Kampf gestorben sei, was Sane verärgerte. «Es war kein Kampf», sagte er mir. «Es war eine Kugel.»

Später fuhren sie ins örtliche Spital, um Candés Leiche zu identifizieren. Er wurde auf einer Metalltrage herausgefahren, eingewickelt in ein weisses Tuch, das teilweise offen war, um sein Gesicht zu zeigen. In den nächsten Tagen reisten Sane und Balde durch Tripolis, um Candés Schulden zu begleichen, die allesamt durch seinen Tod entstanden waren: umgerechnet 170 Franken für die Spitalkosten, 17 für das Leichentuch und die Beerdigungskleidung, 213 Franken für die Beerdigung selbst.

Die Familie von Candé erfuhr zwei Tage später von dessen Tod. Er könne kaum schlafen oder essen, sagte Vater Samba. «Die Trauer lastet schwer auf mir.» Ehefrau Hava hatte inzwischen ihr drittes Kind zur Welt gebracht, eine Tochter namens Cadjato, die jetzt zwei Jahre alt ist. Sie würde erst wieder heiraten, wenn sie ihre Trauer überwunden habe, sagte sie. «Mein Herz ist gebrochen.» Bruder Jacaria hofft immer noch, dass die Polizei die Mörder seines Bruders verhaften wird. Daran glauben tut er nicht. «Also ist er weg: in jeder Hinsicht.» Die Bedingungen auf dem Bauernhof haben sich verschlechtert: Es gibt mehr Überschwemmungen und eine Person weniger, die das Land bestellen kann. Bobo, der jüngste Bruder von Candé, will wahrscheinlich selbst bald versuchen, nach Europa zu gelangen. «Was soll ich sonst tun?»

Nach Candés Tod forderte EU-Botschafter Jose Sabadell eine formelle Untersuchung, die jedoch nie stattgefunden hat. Sabadell reagierte nicht auf Bitten um eine Stellungnahme. Nureddine al-Ghritli wurde suspendiert, aber einige Wochen später wieder eingesetzt.

Die Uno erklärte offiziell, es gebe «hinreichende Gründe für die Annahme, dass Mord, Versklavung, Folter, Inhaftierung, Vergewaltigung, Verfolgung und andere unmenschliche Handlungen, die gegen Migranten begangen werden, Teil eines systematischen und weitverbreiteten Angriffs sind, der sich gegen diese Bevölkerungsgruppe richtet, um eine staatliche Politik zu unterstützen. Als solche können diese Handlungen Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellen.» Um die Rolle derer zu ermitteln, die «direkt oder indirekt an den Verbrechen beteiligt waren», seien weitere Ermittlungen erforderlich.

Trotz all dieser Ereignisse bleibt Europas Engagement in Libyen ungebrochen. Letztes Jahr erneuerte Italien seine Absichtserklärung mit Libyen; seit März gingen weitere 3,5 Millionen Euro und Material wie Schnellboote an die «libysche Küstenwache». Im März verpflichtete sich die EU-Kommission, ein «neues und verbessertes» maritimes Kommandozentrum für Libyen aufzubauen.

Aliou Candé wurde vier Tage nach seiner Ermordung beerdigt. Am 12. April, kurz nach dem 17-Uhr-Gebet, versammelten sich Balde, Sane und etwa zwanzig andere auf dem Friedhof Bir al-Osta Milad. Auf dem acht Hektaren grossen Gelände zwischen einem Elektrizitätswerk und zwei grossen Lagerhäusern sind die meisten Geflüchteten begraben. Inzwischen gibt es dort rund 10 000 Gräber, die meisten davon sind nicht gekennzeichnet.

Die Männer beteten laut, als Candés Leichnam in ein flaches, nicht mehr als eineinhalb Meter tiefes Loch im Sand gesenkt wurde. Die Männer deckten das Grab mit rechteckigen Steinen ab und gossen eine Schicht Zement darüber. Einer fragte, ob jemand Geld von Candé habe, um es seiner Familie zu geben. Keiner antwortete. Nach einer stillen Pause sprachen die Männer unisono: «Gott ist gross.» Dann ritzte einer von ihnen mit einem Stock Candés Namen in den nassen Zement.

Der US-Amerikaner Ian Urbina (49) ist mehrfach preisgekrönter Investigativreporter. Früher für die «New York Times» und den «New Yorker» tätig, ist er heute Direktor der Journalismusplattform «The Outlaw Ocean Project», die sich mit Umwelt- und Menschenrechtsfragen auf hoher See befasst.

Aus dem Englischen von Anna Jikhareva.

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